Die Jacke





































Das einzige was mir von ihr blieb war ihre Jacke.

Sie hatte es scheinbar so eilig, aus meinem Leben zu verschwinden, dass ihr selbst ihre Jacke, die sie so gern getragen hat, egal war.

Zuerst habe ich dies natürlich nicht so gedeutet.
Für mich war es ein Zeichen dafür, dass sie wiederkommen würde, als wolle sie sich eine Hintertür offenhalten, einen unschuldigen Grund mich wiedersehen zu können. All meine Liebe, meine Hoffnung, meinen Schmerz, mein Leid, meinen Hass, meinen Neid, wob mein Herz in diese, ihre Jacke.

Und so wurde ihre Jacke zu meiner Reliquie.

Jeder Blick auf dieses Kleidungsstück, ließ ein tödliches Gemisch aus Erinnerungen in meinem Herzen explodieren.

Von Zeit zu Zeit, nahm ich die Jacke von ihrem Haken, legte mich auf mein Bett und bedeckte mit der Jacke mein Gesicht. Die Dunkelheit und ihr Geruch, der in ihrer Jacke konserviert wurde, wirkten stärker als jede Droge - Sie katapultierten mich in eine ferne, schönere Welt. Eine Welt, wie es sie nicht mehr gibt. Eine Traumwelt, mit meinem Mädchen und mir, als einzigen Bewohnern.

So zog die Zeit ins Land und meine Hoffnung, ihre Jacke wäre ihr Weg zurück zu mir, schwand und schwand. Also versuchte ich, mein Leben weiterzuleben. Die Jacke hing weiterhin an ihrem Platz.

Eines Abends, war ich auf einem Geburtstag einer guten Freundin eingeladen. Es war ein gemütliches Sit-In und deshalb hatte ich die Möglichkeit, mit einer alten Freundin von ihr, ins Gespräch zu kommen. Sie war zwei Jahre jünger als ich, studierte Germanistik, war nicht dumm, hatte Humor und ein charmantes Lächeln, welches von zwei süßen Grübchen garniert wurde. Wir unterhielten uns den ganzen Abend sehr angeregt über verschiedenste Themen und sie brachte mich, was nicht oft bei Frauen der Fall ist, zum Lachen.
Als wir uns verabschiedeten, fragte sie mich, ob wir uns in der kommenden Woche, vielleicht irgendwann mal, zum Kaffeetrinken treffen wollen und ich stimmte zu.

Auf dem Rückweg zu meiner Wohnung, dachte ich viel an den Abend, die Themen, über die wir gesprochen hatten und ihr Art, die mich sofort in Beschlag nahm. Ich mochte sie. Sehr.
Als ich meine Wohnung betrat und mich auf meine Couch setzte, erblickte ich die Jacke.
Augenblicklich verschluckten meine Erinnerungen die Eindrücke des Abends und vergruben die Erlebnisse der letzten Stunden, unter dem Mantel der Bedeutungslosigkeit. Ich war wieder bei ihr.

Doch, so schön meine Traumwelt war und so gut sie mir Zuflucht gebot, so sehr fraß sie mein wirkliches Leben. Entzog meinem Körper die Kraft, raubte mein Glück. Ich merkte, dass ich ihr entfliehen musste.

Ich stand auf, nahm die Jacke von ihrem Haken und verstaute sie in einer Schublade. Dann legte ich mich in mein Bett und schlief einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten morgen wurde ich von einer SMS geweckt, in der mich das Mädchen vom Vorabend fragte, ob ich denn heute schon etwas vor hätte. Ich fasste den Plan, mir beim Frühstück darüber Gedanken zu machen und stand auf.
Zuerst nahm ich es nicht wahr, da es zu einem Teil meines Lebens geworden war, doch als ich das erste Mal in mein Schinkenbrötchen biss, blieb es mir im Halse stecken. Die Jacke hing wieder an ihrem Platz.

Ich zweifelte kurz an meinem Verstand, denn ich war mir sicher, dass ich sie abends in die Schublade gelegt hatte. Ich stand auf und betrachtete die Jacke, als hätte ich sie zum ersten Mal gesehen. Ich berührte sie und roch an ihr. Es war alles beim alten, nichts hatte sich geändert. Das konnte nicht sein. Soviel hatte ich gestern gar nicht getrunken, dass ich mir all das, eingebildet haben sollte. Ich nahm die Jacke erneut vom Haken und verstaute sie wieder in der Schublade. Sie hatte mich wieder zurück. Die SMS vergaß ich völlig.
 
Ich verbrachte den Rest des Tages, so wie ich sie alle in den letzten Monaten vebracht hatte. Ich schaute ein paar Filme, trieb mich im Internet rum, trank diversen Alkohol, rauchte Unmengen an Gras und holte mir Einen runter, bevor ich ins Bett ging. Ich ließ nichts aus, was mich irgendwie von meinem Gefühl ablenken konnte. Irgendwann schlief ich, während ich einen uninteressanten Film, im Fernsehen schaute, ein und wurde irgendwann, am folgenden Nachmittag, wieder wach. Ich hob den Kopf und musste mich zuerst orientieren, da ich normalerweise nicht auf der Couch schlafe. Ich setzte mich auf und schaute mich um. Misstrauisch wanderte mein Blick zur Tür.

Die Jacke war wieder an ihrem Platz.

Ich versuchte es noch zwei, drei Male die Jacke in ihre Schublade zu sperren, ich warf sie in den Müll, Schnitt sie in Stücke, übergoss sie mit Benzin und zündete sie an.

Es wurde mein neuer Lebensinhalt. Ich musste diese Jacke vernichten. Koste es was es wolle.

Doch es half alles nichts. Am Anfang des nächsten Tages hing sie, fast schon provozierend, gerade so, als würde sie heimlich über mich lachen, wieder an meiner Tür. Ich versuchte es fortan nicht weiter und ergab mich meinem Schicksal.

Ein Jahr war vergangen und meine gute Freundin, feierte abermals ihren Geburtstag. Als ich mich für den Abend zurechtmachte und unter der Dusche stand, fiel mir das Mädchen von letztem Jahr wieder ein. Verdammt! Warum hatte ich ihr damals nicht geantwortet? Ich fragte mich, ob ich sie heute Abend wieder treffen würde.

Sie war noch genauso hinreißend, wie vor einem Jahr und zum Glück nahm sie es mir nicht übel, dass ich mich nicht gemeldet hatte. Der Abend verlief ähnlich wie der letzte, nur dass ich sie diesmal nach Hause begleitete und wir uns zum Abschied küssten. Mein Grinsen, dass mich auf dem Heimweg begleitete, sollte mich auch noch ins Bett verfolgen.

Am nächsten Morgen stand ich auf und ging, wie gewohnt, in mein Wohnzimmer. Irgendetwas fühlte sich jedoch komisch an, irgendetwas fehlte. Ich schaute mich um. Es war alles beim alten, meine Couch stand an ihrem Platz, und auch mein Tisch, mein Schrank, meine Bücher, meine Bilder. Alles war so, wie ich es den Abend zuvor hinterlassen hatte. Aber dennoch.
Ich ging durch den Raum und schaute aus meinem Fenster. Am Horizont konnte ich die ersten Strahlen der Sonne ausmachen.
Es würde ein schöner Tag werden.

Ich drehte mich um und dann sah ich, was mein Gefühl hervorgerufen hat.

Ihre Jacke - Sie war verschwunden.




Winterabend


Winterabend

Mutter und Vater weinend am Kamine sitzend
Ganz allein, in klirrend kalter Nacht
Das Holz brennt und die Flammen knistern
Ein Junge hat gerad' an sie gedacht

Der Junge draußen am Fenster steht
Und zu den beiden ins Warme sieht
Er ist sich sicher, dass er sie kennt
Er ist sich sicher, er liebt sie so sehr
Doch warum das so ist, dass weiß er nicht mehr

Die Beiden nun dicht umschlungen, eine Träne zerinnt
Die Eltern sie weinen, und auch der Junge beginnt
Er würde sie gerne befreien aus ihrer Not
Doch der Junge ist leider schon lange tot


Tag und Nacht



Es ist Tag

Das Nichts und die Unendlichkeit kreuzen ihre Schwerter,
zehntausend Dinge klatschen jenen Rhythmus.
Elemente üben sich vergnügt im Tanze,
das Lachen der Bäume malt Wellen in die Wiesen.
Ein Schatten durchläuft die Szenerie,
die Sonne wirft seinen Mann auf den Boden.
Eine Zeit fliegt vorbei,
grüßt den Mann,
fliegt hastig weiter.
Der Schatten explodiert zu Erdbeergeschmack,
befruchtet das Land.
Die Wiesen ziehen weiter,
ihr Hirte die Unendlichkeit,
die eiförmige Reinkarnation.
Träume tropfen von den Blättern der Bäume,
zerplatzen in einer Pfütze,
sie spiegelt die Erde.
Ein Schwarm Münder kauert in einer Sackgasse,
ihr Schweiss schmeckt nach fliegenden Tauben.
Heimliche Brüste liebkosen den Zweifel,
ein Ring entzieht sich der Ewigkeit,
junge Seelen zerschmelzen auf dem Herd,
verzweifelte Schreie spielen mit Gewehren.
Wolken aus Maschinen stricken transparente Ängste,
ihre Auren zeichnen Städte,
ihre Früchte schöpfen Sklaven.
Eine Motorsäge begeht Suizid.

Es ist Nacht.

Der graue Mann und die Blumen

Endlich. Endlich hatte sie eingewilligt mich zu treffen.
Nun stand ich an unserem Treffpunkt an einer Mauer gelehnt und wartete.
Es war kurz vor Drei. Ich war ein wenig zu früh dran und wurde immer nervöser. Mein Herz schlug schneller. Meine Blase wollte sich entleeren..
Um mich zu beruhigen, zog ich mir eine Zigarette aus der vollen Schachtel in meiner Hosentasche.Es war die mittlerweile tausendste letzte Zigarette meines Lebens.

Ich steckte sie mir in den Mund, hielt die Flamme meines Feuerzeugs an ihre Spitze und inhalierte den grauen Dunst.

Als der Rauch meine Lungen füllte und das Nikotin sich in meinen Kreislauf ausbreitete, zeigte es sofort seine Wirkung und beruhigte meinen nervösen Körper.
Nach der Hälfte der Zigarette, bemerkte ich auf der anderen Straßenseite einen Mann.
Er trug einen altmodischen, grauen Stoffanzug und einen Borsalino Hut auf dem Kopf.
Nicht nur seine Kleidung wirkte grau, sondern ebenfalls seine Haut. Er machte den Eindruck, als wäre er einem Schwarzweissfilm entsprungen. Er wirkte grauer als der Asphalt, auf dem er sich bewegte.
Schnurstracks lief er über die Straße und einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, er käme auf mich zu.
Kurz bevor er mich erreichte, bog er jedoch ab und bewegte sich auf den Blumenkübel zu, der in meiner Nähe stand.
Dort hielt er an, zog seine Anzugjacke aus, faltete sie und legte sie feinsäuberlich neben sich auf die Straße.

Nun krempelte er die Ärmel seines (in der Vergangenheit vielleicht einmal weißen) Hemdes hoch und begann, die Blumen in dem Kübel zu verspeisen.

Zuerst dachte ich, er wolle nur an den Blumen riechen, doch er aß sie.

Er machte sich über die Blumen her, wie ein hungriger Löwe über eine frisch gerissene Gazelle.
Blume um Blume verschwand in seinem Mund.
Nach zwei Minuten hatte er er alles Rote und Grüne verspeist und übrig blieb ein grauer, kahler Kübel.
Er krempelte seine Ärmel wieder runter, zog seine Anzugjacke an, strich sie noch kurz glatt und drehte sich zu mir um. Lächelte, hob kurz seinen Hut, als Zeichen des Abschieds und verschwand hinter einer Häuserecke.

Ich nahm den letzten Zug an meiner Zigarette, trat sie auf dem Boden aus und rührte danach nie wieder eine an.

Homo Ökonomicus


Wenns nach mir gegangen wäre, hätte ich lieber eine Ausflug ins Grüne gemacht, aber wenn man einen 9 jährige Sohnemann hat und einen endlichen Vorat an Nerven, ist man nunmal ab und an nicht die letzte Instanz der Entscheidungsgewalt.
Also gingen wir in den Zoo.
Wir hatten uns gerade ein Fruchteis geholt, oder vielmehr ich hatte mir eins gegönnt, umso dem unendlichen Schwall an Warumfragen zu entfliehen...
Warum gibts nur noch einen Löwen, Papa? - Weil alle anderen leider tot sind.
Warum sind alle anderen tot? - Weil wir ihnen den Lebensraum genommen haben und sie keinen Platz mehr zum Leben hatten. Warum haben wir das gemacht, Papa? - Hey sollen wir vielleicht ein Eis holen? - JA!
Kinder sind eben Kinder...und Eis ist eben Eis.
Als wir um die Ecke bogen konnte ich meinen Augen nicht trauen. Ich hatte zwar ab und an von ihm in der Zeitung gelesen, aber wenn man ihn dann in der Realität sieht, ist es natürlich immer noch beeindruckender. Forscher hatten ihn durch Zufall in einer der verbotenen Zonen entdeckt. Eigentlich nahm man an, dass dort kein Leben mehr existieren würde. Aber selbst die Wissenschaft ist nicht unfehlbar.
Leider konnten wir ihn gerade nicht sehen, da er scheinbar in einem der extra für ihn gebauten Gebäuden war. Also mussten wir mit der Infotafel vorlieb nehmen.

Wirtschaftsmensch/Arbeiter (umgs)
(lat. Homo Ökonomicus)
Letztes Exemplar seiner Art.
Natürlicher Lebensraum: Ballungsgebiete, vereinzelt auch auf dem Land zu finden.
Fundort: Verbotene Zone 7G (ehemals Japan)
Epoche: Neuzeit bis Postneuzeit
Größe: 178cm
Gewicht: 85Kg
Nahrung: Allesfresser
Feinde: Homo Öconomicus, Homo Sapiens, Homo Öcologicus

Verhalten: Der Homo Öconomicus hat im Regelfall einen strickten Tagesrhythmus:
6-7:00 Uhr: aufstehen, Blase entleeren, Nahrungsaufnahme,Darmentleerung
9-12:00 Uhr: Arbeit verrichten
12-12:30 Uhr: Nahrungsaufnahme
13-17:00 Uhr: Arbeit verrichten
17-18:00 Uhr: Nahrungsaufnahme
18-22:30 Uhr: Unterschiedliche Aktivitäten (hauptsächliche jedoch TV oder PC)
22:40 Uhr: Reproduktionsaktivitäten (mit oder ohne Partner)
23:00 Uhr: Schlafenszeit.

Besonderheiten: Der Homo Ökonomicus ist die bisher einzige Spezies der Weltgeschichte, die für ihr eigenes Aussterben verantwortlich gemacht wird.

Leider kamen wir zu einer ungünstigen Zeit an seinem Gehege vorbei und konnten ihn nicht wirklich zu Gesicht bekommen. Die Fütterung fand auch erst zwei Stunden später statt und mein Kleiner wollte sich nicht gedulden bis er sein Büro verließ.
Also gingen wir weiter zu den Giraffen.

Als wir abends mit unseren Freunden am Feuer saßen und ich in den Sternenhimmel schaute, musste ich wieder an ihn denken.
Irgendwie tat er mir leid.


Es war, es ist, es wird nie mehr so sein


An einem schwülen Tag im Frühling, stand ich vor dem Tiefkühlregal und hielt nach einer Pizza Ausschau, als mir jemand auf die Schulter tippte. "Entschuldigung?", flüsterten die lieblichsten Lippen die ich je küssen sollte. "Kannst du mir vielleicht den Knoten aus meiner Tasche machen?" Hilflos sahen mich ihre braunen Augen an, sie strahlten in mein Innerstes hinein. "Aber gern!" sagte ich und freute mich wie ein kleines Kind, dass es endlich so weit war. So lange hatte ich gewartet. 
Während meine Finger herrenlos den Knoten öffneten, ließ ich keinen Blick von Ihr schweifen. Ich wollte jeden Moment auskosten, jeden Moment für immer konservieren.
Als sie sich bedankt und auf den Weg zum Brotregal machte, zögerte ich, überlegte, wusste es besser und doch berührte ich ihre Schulter. Sie drehte sich um, und Ihr Lächeln machte uns zu einem Paar.
Dies geschah vor einem Jahr. 

Heute morgen wachte sie wie immer auf, setzte sich auf die Kante unseres Bettes, schüttelte einmal Ihren Kopf, wobei ihr traumhaft süßer Duft meine Nase liebkoste, streckte ihre Arme und stieg mit einem Ruck auf. Sie drehte ihren Kopf und schenkte mir ein Lächeln. Ich lächelte zurück, wie immer versucht mir nichts anmerken zu lassen. Dann stand sie auf und ging unter die Dusche. Singen ist nicht ihre Disziplin, aber die Leidenschaft und Lebensfreude, die sie unter der Dusche zum Ausdruck bringt, erwärmt mir jedes Mal mein Herz.
Tanzend kommt sie zurück in unser Schlafzimmer und der Geruch frischer Kirschen, mischt sich mit dem Geruch meines Mädchens. Eine köstliche Kombination.
Ich betrachte Ihren Körper. Ihren kleinen, festen Po, ihre langen, seidigen Beine, ihren elfenhaften Rücken und ihre Brüste, die perfekt in meine Hände passen. Mein Herz verkrampft sich, doch ich versuche den Moment zu genießen.
Sie schlüpft in eine ihrer Jeans und lässt ihr Lieblingsoberteil über ihre Schultern fallen. Sie sieht aus wie eine Königin, die weiß, dass es nicht viel braucht, um einen Mann verrückt zu machen.
Sie geht zu Ihrem Nachtschränkchen und streift ihre Uhr über ihr Handgelenk. "Verdammt, ich bin zu spät!" sagt sie und lehnt sich über ihre Seite des Bettes, um mir einen flüchtigen Kuss zu geben. "Bis später", sagt sie und will gerade losgehen, als ich sie zurückziehe. Ich halte sie fest und küsse sie noch einmal, länger, intensiver. Ich überlege, zögere, weiss es besser und doch lasse ich sie los. Sie ist überrascht, doch Ihr Lächeln zeigt Verständnis. Dann verlässt Sie unsere Wohnung. Und ich beginne zu weinen.

Sie wird den Zug noch bekommen. Wird einem bettelnden Asiaten Geld geben, weil Sie ein ein so großes Herz besitzt. Dann wird sie aussteigen, auf dem Weg zum Büro zehn Männern begegnen, die es nicht glauben können, dass so ein Wesen auf Gottes Erde wandert. Sie wird einen erfolgreichen Tag haben. Sie wird absichtlich etwas früher aus dem Büro gehen um den Zug zu bekommen, damit sie mich sehen kann. Weil sie mich vermisst.
Um 17:43 wird sie an Gleis 13 von einem gestressten Anzugträger auf die Gleise gestoßen und der einfahrende Zug beendet ihr Leben.

Ho Ho Ho Chi Minh


Ich schaue aus meinen Fenster. 
Die letzten Atemzüge des Tages, bevor die Nacht hereinbricht. 
Ich sehe Menschen. Frauen, Männer, Kinder. Sie bewegen sich. 
Autos, Züge, in der Ferne ein Flugzeug. 
Sie unterscheiden sich und doch folgen sie alle dem gleichen Ruf, sprechen diesselbe Sprache. Leider verstehe ich sie nicht. 
Ihre Farben blenden mich. Gleichzeitig verwandelt sich die Welt in Nuancen aus Grau. 
Wo ist das Weiß? Wo ist das Schwarz?
Ich schließe mein Fenster, schließe die Jalousie. Meine Klimaanlage surrt. 
Ich greife nach dem Telefon und wähle die erste Nummer, die mir in den Kopf kommt. Nach zwei Freizeichen meldet sich eine Frau am anderen Ende der Leitung.
"Ho Ho Ho Chi Minh", ruft sie mir entgegen. 
"Bitte?", frage ich. 
"Ho Ho Ho Chi Minh", höre ich sie wieder rufen. 
"Oh Verzeihung", sage ich. "Ich habe mich wohl in der Zeit geirrt!" und lege wieder auf.